Neuigkeit
Freitag | 5. Juli 2024

Melancholie der Nacktheit

Wiebke Mertens wurde mit dem Karin Hollweg Preis 2024 ausgezeichnet
Wiebke Mertens und ein Ausschnitt ihrer Arbeit "Slim fit".
Wiebke Mertens und ein Ausschnitt ihrer Arbeit "Slim fit". © Leon Sahiti

Während Dinge und Beziehungen zunehmend digitalisiert werden, geht der Blick zurück aufs Analoge, Anfassbare und die abseits der Geräte zu aktivierende Sinnlichkeit, deren Sinnfülle allein schon darin liegt, uns mit anderen zu verbinden. Und so malt Wiebke Mertens, Meisterschülerin von Katrin von Maltzahn, in realistischer Akkuratesse und ohne verklärende Schleier das Zusammenspiel von Verhüllen und Entblößen mit Öl auf Papier, legt traditionsbewusst Firnisglanz obendrauf, bricht aber gleich wieder mit der Historie und nagelt ihre Arbeiten rahmenlos roh an die Wand. 

© Sandra Beckefeldt

Die Beine: nackt. Der Oberkörper: von einem Hoodie verdeckt. Der Anatomie entsprechend hängt auch ein träge der Erdanziehung ergebener Penis aus der senkrechten Bildkomposition. Ein Penis ist und bleibt ein Penis, nackte Haut nur nackte Haut, in die Spuren des Lebens, der Zeit und der Erfahrungen des Menschen eingeschrieben sind. Beides funktioniert in Mertens‘ siebenteiliger Werkgruppe „Slim fit“ (wegen der hochformatig schmal geschnittenen Malgründe) aber auch als Zeichen für mehr, für Erwartung, Sehnsucht und die damit verbundene Unsicherheit. Nicht unbedingt im sexuellen Sinn. Mertens geht es grundsätzlich um Körperlichkeit und die Widerstände, die die in uns tobenden Lüste, Triebe, Begierden beschränken, so dass ein akuter Mangel an Kontakt, Nähe, Interaktion, Zuwendung, Berührung, Verschmelzen herrscht. So sind auf den einzelnen Gemälden verschiedene Körperabschnitte zu sehen, die teilweise ver-, teilweise unbedeckt sind und Verklemmungen, Anspannungen und Gesten der Verlorenheit ausdrücken. Auf die Isolierung voneinander verweisen auch die Abstände, mit denen die Bilder gehängt sind. Von ganz oben aus betrachtet übrigens die Künstlerin als Selbstporträt ihre Arbeiten. 

Bisher hat sich Mertens vor allem mit Porträts beschäftigt, setzte sich also mit der Inszenierung von Körpern, dem Posieren und Momenten des Gelesen- und Eingeordnet-Werdens auseinander. Mit den fragmentierten Körperbildern in „Slim fit“ hat sie jetzt eine künstlerisch überzeugende Form für ihr Thema gefunden. Dafür wurde sie am 4. Juli 2024 mit dem Karin Hollweg-Preis im Gerhard-Marcks-Haus ausgezeichnet. Dort gehört die Arbeit der Preisträgerin zur Ausstellung „zip Meisterschüler:innen der HfK 2024“, die noch bis 18. August 2024 zu erleben ist. 

Begründung der Jury: 

„Wiebke Mertens‘ Arbeiten im Gerhard-Marcks-Haus knüpfen an die Geschichte der Porträt- und der Aktmalerei an, ohne die Fragen von Stofflichkeit, von Verhüllung des Körpers zu vernachlässigen. Damit navigiert sie so überzeugend wie selbstbewusst durch eine Jahrhunderte alte Tradition. Die Unmittelbarkeit der Motive spiegelt sich in der räumlichen Präsentation.

Ihre Bilder pendeln zwischen Rotzigkeit und Sanftheit, Altmeisterlichkeit und Jugendkultur, Selbstbezogenheit und zwischenmenschlichen Verhältnissen, Voyeurismus und Schutzraum. Die Körperfragmente stehen vor einem neutralen Hintergrund und lösen ihre Motive aus einem spezifischen Raum. Auf der anderen Seite verorten die Kleidungsstücke die Körper in der Gegenwart.“

Jury 2024: 

Matilda Felix, Städtische Galerie Delmenhorst 
Wolfgang Hainke, Künstler
Annette Hans, GAK, Gesellschaft für Aktuelle Kunst 
Andreas Kreul, Karin und Uwe Hollweg Stiftung 
Ingmar Lähnemann, Städtische Galerie Bremen
Nadja Quante, KH Künstler:innenhaus Bremen
Annett Reckert, Kunsthalle Bremen 
Frank Schmidt, Museen Böttcherstraße
Mirjam Verhey-Focke, Gerhard-Marcks-Haus
Janneke de Vries, Weserburg, Museum für moderne Kunst

Beisitzer:
David Bartusch, Vorsitzender des Freundeskreises der Hochschule für Künste Bremen e. V.
Natascha Sadr Haghighian, Professorin an der Hochschule für Künste Bremen

Preis:

Mit dem Karin Hollweg Preis fördert die Karin und Uwe Hollweg Stiftung seit 2007 (er wurde in diesem Jahr für weitere fünf Jahre und somit bis mindestens 2028 gesichert) die Meisterschüler:innen der Hochschule für Künste (HfK) Bremen. Der Preis wird jährlich in Zusammenhang mit der Ausstellung der Meisterschüler:innen der HfK verliehen, die rotierend in unterschiedlichen Ausstellungshäusern stattfindet. Er ist einer der höchstdotierten Förderpreise aller Kunsthochschulen in Deutschland. Über die Preisvergabe entscheidet jedes Jahr eine hochschulexterne Jury, die sich aus Kunstexpert:innen aus Bremen und dem Umland zusammensetzt. Der Preis ist mit 18.000 Euro ausgewiesen, wobei eine Hälfte als Preisgeld direkt an die Preisträger:innen ausgezahlt wird, die zweite Hälfte ist für die Realisierung einer Einzelausstellung reserviert. Weitere 2.000 Euro werden der ausstellenden Institution der Meisterschüler:innen Ausstellung zur Verfügung gestellt. Damit beläuft sich die Förderung auf insgesamt 20.000 Euro pro Jahr.

Bisherige Preisträger*innen: das Dilettantin Produktionsbüro (Anneli Käsmayr und Jenny Kropp zusammen mit Claudia Heidorn, Anna Jandt und Alberta Niemann) (2007), Verena Johanna Müller (2008), Christian Haake (2009), Nicolai Schorr (2010), Noriko Yamamoto (2011), Janis E. Müller (2012), Franziska Keller (2013), Z. Schmidt (2014), Tobias Heine (2015), Claudia Piepenbrock (2016), Felix Dreesen (2017), Zhe Wang (2018), Mattia Bonafini und Luisa Eugeni (2019), Kate Andrews (2020), Shirin Mohammad (2021), Martin Reichmann (2022), Hannah Wolf (2023).

Biografie:

Wiebke Mertens (geb. 1997 in Suhl) ist Malerin, die in Bremen lebt und arbeitet. 2023 schloss sie das Studium der Freien Kunst an der HfK Bremen mit Diplom ab und ist seitdem Meisterschülerin bei Katrin von Maltzahn. 2022 absolvierte sie an der Hochschule für Bildende Künste Dresden in der Klasse für Malerei bei Anne Neukamp ein Gaststudium. Sie hatte Ausstellungen u. a. in der Galerie Herold und der Galerie Kʼ und sie war ein Jahr lang als Artist in Residence im Kombinat e. V. Spinnerei Leipzig. Neben der Malerei arbeitet Wiebke Mertens auch kuratorisch, zum Beispiel für die Ausstellung Container Love im Tor 40 Bremen, 2023 und für das raus.project, 2022 sowie dem CIAO Ausstellungscontainer am Güterbahnhof Bremen zusammen mit Anne Moder (2019-2024).