Interview mit Kilian Schwoon
Raumerkundungen durch Klang und LichtHfK-Studierende präsentieren mit „Polytope XIa“ eine Hommage an Iannis Xenakis zur Eröffnung des Speichers XI A.
Der griechische Komponist benutzte den Begriff Polytope für eine ganze Werkreihe. Er setzt sich aus den altgriechischen Wörtern poly (= viel) und topos (= Platz, Ort) zusammen. So ist Polytope bei Xenakis zu verstehen als eine Bezeichnung für Inszenierungen von vieldimensionalen, dynamischen, letztlich imaginären Orten, bei denen sich abstrakte Licht-, Farb-, Klangkompositionen, Projektionen und Architektur überlagern. Xenakis setzt sich mit diesem Konzept von der klassischen Musik und Kategorien wie interpretatorischer Virtuosität sowie stumm-steif-inniger Rezeptionshaltung ab. Abseits der damaligen Avantgarde, Arnold Schönbergs Zwölftonlehre und der daraus hervorgehenden seriellen Musik, wurde Xenakis zum Wegbereiter digitaler Musik und hat Musikinformatik sowie heutige Multimedia-Shows beeinflusst.
Einblicke in Polytope XIa gibt es hier zu sehen.
(Vimeo: Externer Link)
Über das „Polytope“-Projekt sprachen wir mit Kilian Schwoon (Foto: Lukas Klose), HfK-Professor für Elektroakustische Komposition.
Herr Schwoon, Ihre Studierenden und die Ihrer Kollegen Dennis Paul und Lorenz Potthast haben sich mit Iannis Xenakis auseinandergesetzt. Wofür steht der Künstler ihrer Ansicht nach?
Aus musikalischer Sicht war Xenakis ein Außenseiter, der für viele eher befremdliche Dinge in die Musikgeschichte eingebracht hat. Er wollte Wissenschaft und verschiedene Künste zusammenbringen, steht wie unsere Hochschule also für interdisziplinäres Arbeiten. Er vereinte Interdisziplinarität sozusagen in sich selbst, war Ingenieur, Architekt und hatte nebenbei Komposition bei Olivier Messiaen studiert. Mit Architekt Le Corbusier und Komponist Edgard Varèse schuf er schon am Anfang seiner Karriere den Philips Pavillon auf der Expo 1958 in Brüssel, der dank Film- und Lichtprojektionen sowie über Hunderte Lautsprecher eingespielten Klängen wohl ein revolutionäres Raumerlebnis zwischen den Künsten geboten haben muss.
Ein klingender Lichtraum – wie gehören Architektur und Musik konkret für Xenakis zusammen?
Es geht ihm oft darum, dass verschiedene Grundprinzipien auf verschiedenen Ebenen in der Formbildung wirksam sind. Die grafische Kurven-Darstellung der Glissandi seines Orchesterstücks „Metastaseis“ findet sich etwa in der Architektur des Philips Pavillons wieder, er ist letztlich aus diesen Kurven gebaut. Hier berührt sich sehr direkt die musikalische mit der architektonischen Konstruktion.
Seine „Polytope“ passen nicht in klassische Schubladen wie 3-D-Kino, Konzert, Ausstellung ... wie lässt sich das Werk beschreiben?
Er selbst sprach gern von „Klang- und Lichtgesten“, für unser „Polytope XIa“ verwenden wir den Begriff „Klang- und Lichtinszenierung“. Im Gegensatz zu einer Installation gibt es einen dramaturgisch klaren Verlauf mit fester Zeitstruktur, mit Anfang und Ende.
Die definiert sind durch vorproduzierte Musikzuspielungen, was im Gegensatz zur herkömmlichen Live-Interpretation einer Partitur im Konzert steht. Zudem kommt die Musik nicht klassisch frontal daher.
Es geht darum, dass das Publikum vollständig umgeben ist von Klängen und visuellen Elementen, dort hineintauchen, sich darin bewegen kann, was ein starkes räumliches Gesamterlebnis ergibt.
So waren die „Polytope“ Vorläufer der heute so beliebten immersiven Kunst?
Es waren immersive Spektakel. Jean-Michel Jarre war bei einem der „Polytope“ dabei und griff einiges in seinen gigantischen Shows auf. Aber immersive Kunst durfte und darf durchaus auch sperrig sein.
Muss man seinen Kopf ausschalten, um das mit allen Sinnen optimal erleben zu können?
Idealerweise stärkt sich ja beides gegenseitig, das Denken und das Fühlen, es durchdringt sich und ist untrennbar miteinander verbunden. Die Musik hat zwar viel mit Mathematik und Konstruktion zu tun, aber für Xenakis ist auch das unmittelbare Erleben extrem wichtig.
Konkret war das „Polytope de Cluny“, auf das sich „Polytope XIa“ bezieht, von 1972 bis 1974 zu erleben in den Gewölben der Thermen von Cluny, 200 n. Chr. von den Römern in Paris erbaut. Zu elektroakustischer Musik aus zwölf Lautsprechern erzeugten 600 Blitzlampen, die auf Gerüsten angebracht waren und einzeln ausgelöst werden konnten, sowie drei Laser, die über ein Netz von verstellbaren Spiegeln projiziert wurden, ein lebendiges Lichtmuster. Wie viel dieser Technik ist in Bremen im Einsatz?
Uns geht es nicht um eine Imitation des damaligen Projekts. Neben den Original-Tonspuren des „Polytope de Cluny“ erklingen zudem diverse studentische Kompositionen und Klangarbeiten, die sich auf Xenakis beziehen. Wir nutzen dabei 35 Lautsprecher, hinzu kommt eine komplexe Lichtinstallation mit zwei Projektoren sowie acht Lichtstelen und vier sehr bewegliche, das Licht stark bündelnde Scheinwerfer, neun rotierende und acht feste Spiegel ... das Ganze ist eine Hommage an Xenakis und gleichzeitig eine visuelle und akustische Erkundung des neuen Gebäudes.
In Fotos der Uraufführung liegen die Besucher auf dem Boden, starren träumerisch oder wie auf einem Drogentrip herum.
Unsere Produktion ist eher zum Herumlaufen gedacht, weil man das Kunstwerk an jedem Ort im Raum anders erlebt. Man kann sogar die eigenen Smartphones als Lichtgeber einsetzen und so aktiver Teil des Geschehens werden. Aber es steht jedem frei, sich hinzusetzen oder hinzulegen.
Auch wenn wir nur einen Betonboden anbieten können. Berichte über die Pariser Produktion vermitteln aber auch nicht den Eindruck, dass es ein angenehmes Erlebnis zum Meditieren, „Om“ raunen, In-sich-selbst-Versenken war, sondern ein eher expressives Ereignis, etwas Aufwühlendes, ein sinnlicher Schock.
Durchaus etwas Erschütterndes, genau.
Xenakis hat ja auch seine eigenen Kriegserfahrungen in der Musik verarbeitet, was ja tragisch-trauriger Weise wieder sehr aktuell ist.
Ich weiß nicht, ob wir das betonen sollten, weil ein solches Wissen die Assoziationen natürlich stark lenkt. Xenakis hat das selbst auch nicht so in den Vordergrund gestellt. In seinen Schriften und in Interviews erzählt er aber schon von seinen Kriegserlebnissen im griechischen Widerstand gegen die britische Besatzung, auch von seinen schweren Verletzungen, er verlor sein linkes Auge, erlitt einen Hörschaden und war sicherlich schwer vom Krieg traumatisiert. Gleichzeitig muss es aber auch eine Faszination gegeben haben, denn gerade in den „Polytopen“ kann man einige Klang- und Bildelemente ziemlich deutlich mit Kriegssituationen in Verbindung bringen – schon allein die Lautstärke der Musik trägt dazu bei. Offensichtlich war es tatsächlich eine Form der Verarbeitung.
Wie komponierte Xenakis?
Immer wieder anders! Er war aber oft an stochastischen Phänomenen interessiert, bei denen viele kleine Elemente zusammen eine übergreifende Wirkung haben, in der man die einzelnen Elemente nicht mehr genau wahrnehmen kann – etwa Zikadenschwärme, Wetterereignisse, Menschenmengen ...
... wo sich also aus ganz vielen einzelnen Klängen, meteorologischen Energien, unterschiedlichen menschlichen Verhaltensweisen etwas Neues ergibt ...
... genau das war sein Ansatz!
Hat Xenakis Klänge der Realität aufgenommen oder am Synthesizer nachgebildet?
Er hat vor allem mit konstruktiven Prinzipien etwas Ähnliches erschaffen, was aber eine eigene Gesetzlichkeit hat. Für „Concret PH“ nahm er die knackend-knisternden Geräusche ausglühender Holzkohle auf, hat dann die einzelnen, Bruchteile von Sekunden kurzen Knackse aus der Gesamtaufnahme herausgenommen und nach Gesetzen der Teilchenbewegung in Gasen neu organisiert.
Er bezog sich auf mathematische und physikalische Gesetzmäßigkeiten, die jenseits der etablierten ästhetischen Urteile existieren. Auch wenn das handwerklich bestimmt noch recht mühsam war, Xenakis arbeitete ja noch analog mit Tonbandmaschinen, spielte die Knackse in unterschiedlichen Tempi ab, addierte, schichtete, verfremdete, mischte sie ...
.. und am Ende kam eben wieder etwas Naturhaftes raus, von menschlichem Willen durchwirkte Natur, „Concret PH“ klingt gleichzeitig ähnlich und doch ganz anders als ausglühende Kohle auf einem Grill.
Und wie war das bei „Polytope“?
Dafür hat er vor allem Klänge aufgezeichnet, die auf der Mikroebene ohnehin schon interessant sind und komplexe Oberflächenstrukturen hörbar machen, etwa mit Bogen gestrichene Kartons, Windspiele, das Reiben auf einem Tamburin. Es geht um Klänge und Geräusche des Rüttelns, Kratzens, Klirrens ... daraus konstruierte Xenakis seine Tonspuren, die uns digitalisiert vorliegen. Außerdem wurden einige der Klänge auch schon digital generiert, mit Techniken, die er „stochastische Synthese“ nannte.
Eine Partitur gibt es dafür nicht, aber Hinweise, wie die Verteilung von Klangereignissen in Zeit und Raum mit den Lichtereignissen interagieren?
Wichtig für das Projekt war eine Forschungskooperation mit dem Centre Iannis Xenakis an der Université de Rouen. Der Xenakis-Experte Daniel Teige hat dort den Nachlass von Robert Dupuy, dem Informatik-Assistenten von Xenakis für „Polytope de Cluny“, gesichtet und uns zugänglich gemacht. Wir haben sehr viele Zeichnungen studiert und konnten besser verstehen, welche Lichtkonstellationen geplant waren zu der Musik, mit welcher Logik die beiden gearbeitet haben.
Das rekonstruieren sie aber nicht, das haben Kolleg:innen ja in Paris bereist letztes Jahr gemacht, im Institut de recherche et coordination acoustique/musique (Ircam) im Centre Pompidou.
Die Tonbänder liegen offiziell beim Verlag in einer 7-Kanal-Version vor. Wenn man die sieben Spuren einfach auf sieben Lautsprecher legt, ist das total langweilig, Xenakis hatte sie damals ja auch schon ständig anders auf zwölf Lautsprecher auf zwei Ebenen verteilt. Bei uns werden sie mit unterschiedlichsten Geschwindigkeiten ihre Bahnen über 35 Lautsprecher in der Halle 1 des Speichers XI A ziehen und sich dabei immer wieder anders im Raum ausdehnen.
Sie lassen sie durch die Boxen kreiseln, springen, mal aufblühen, dort sich zurückhalten, anhalten, auf die Klänge der anderen Spuren treffen, sich reiben, überlagern, wieder voneinander trennen ... und darauf abgestimmt sind die Lichtinszenierungen?
Ja, so kann man das sagen.
Das Projekt ist beispielhaft für fachbereichsübergreifendes Arbeiten.
Vor allem ist es ein gemeinsames Projekt von 13 Studierenden, die sich mit Musik und visueller Kunst beschäftigen. Die meisten Beteiligten kommen aus den Digitalen Medien, außerdem sind einige aus den Studiengängen Komposition und Integriertes Design dabei.
In Paris in den 1970er Jahren pilgerten ja 200.000 Besucher zu den „Polytope de Cluny“. Mit wie vielen rechnen sie in Bremen?
Das Bremer Publikum sollte man nicht unterschätzen, vielleicht kommen wir ja auf 1.000 Besucher:innen in unseren Vorstellungen am 19., 20. und 21. April?